Eine Metapher, beschrieben in „Journey to India“, von Heinrich Zimmer
Davor Antunovic in freier Wiedergabe eines uralten indischen Textes, ursprünglich übersetzt von Heinrich Zimmer in „Jorney to India“
Eine Geschichte, welche ich in einem Buch namens „Die Philosophie Indiens“ von Heinrich Zimmers, einem berühmten Indologen gefunden habe.
Jagdpech
Die Geschichte, mit welcher ich beginnen möchte handelt um ein Tigerweibchen und das Schicksal ihres Jungen.
Sicherlich kennt jeder den Anblick eines Tiger, mächtige und stolze Tiere, die wundervolle und klangvolle Titel zieren. Löwen werden als Könige der Tiere bezeichnet. Tiger bekommen in allen Kulturen Ehrenbezeugungen als König des Dschungels, Zar der Taiga, oder Herrscher über alle Tiere.
Anders als Löwen jagen Tiger nicht in Rudeln, sondern alleine. Mit 300 kg sind Tiger durchschnittlich 50 kg schwerer als Löwen und trotzdem weitaus wendiger und agiler. Wundervolle Tiere voller Kraft und Würde.
Das wirklich interessante ist aber, dass viele Raubkatzen eine verstärkte Gebärmutter haben. Die Gebärmutter ist mit einem Netzverstärkt , so dass sie auch hochschwanger noch jagen kann. Die spezielle Anatomie sorgt dafür, dass das Ungeborene keinen Schaden nimmt.
In unserer Geschichte hatte unser Tigerweibchen allerdings Pech und durch einige schlechte Jagdergebnisse war unsere Tigerin hungrig und geschwächt.
Schicksal und artübergreifender Altruismus
Auf der Suche nach Nahrung fand sie jedoch eine Herde von Ziegen. Mit letzter Kraft riss sie eine der Ziegen. Die anderen Ziegen rannten davon, um ihr Leben zu retten.
Tribut 1
Mit letzter Kraft aß sie ein wenig ihrer Beute aber die Anstrengung kostete einen hohen Preis. Der Körper leitete die Geburt ein und sie verstarb an der Anstrengung durch die Geburt. Das Tigerbaby war jedoch gesund zur Welt gekommen. Aber alleine natürlich nicht überlebensfähig.
Die Ziegen blieben in der Nähe und bemerkten das schwache und hilflose Tigerbaby. Normalerweise zum Tode verurteilt durch jene Naturgesetze, welche uns manchmal in Dokumentationen und Erzählungen als grausam erscheinen.
Jedoch passierte etwas, was in der Natur gar nicht mal so selten vorkommt und was die Sozialpsychologie artübergreifender Altruismus nennt. Die Ziegen nahmen sich dem Tiger an und zogen ihn groß.
Ein Tiger, der denkt eine Ziege zu sein…
Durch Nachahmung und Modelllernen erlernte der Tiger schließlich das Leben als Ziege. Er bewegte sich wie eine Ziege, er aß die gleichen Sachen und roch sogar wie eine Ziege. Tatsächlich machte er auch ähnliche Laute wie eine Ziege.
Der Tiger wurde groß mit dem Bewusstsein eine Ziege zu sein. Schließlich und letztendlich sprach alles dafür, dass er eine Ziege war.
Schicksalswende
Eines Tages, der junge Tiger war mittlerweile fast erwachsen, kam ein alter Tiger vorbei, auf der Suche nach Beute. Es kam wie es kommen musste:
Der alte Tiger sprang in die Herde und erwischte seine Beute. Eine Ziege wurde gerissen. Der Rest der Ziegen rannte durch den angeborenen Instinkt des sympathischen Nervensystems hinfort um ihr Leben zu retten.
Alle, nur der junge Tiger nicht, der eben diesen genetische Instinkt nicht hatte. Er blickte auf den alten und mächtigen Tiger und verstand die Situation einfach nicht. Mit der Stimme eines jungen Tigers kam ein Versuch zu Mähen aus seinem Maul.
Erbärmlich…
Der alte Tiger schaute erstaunt zu dem jungen Wesen hinab. Da war eindeutig ein Artgenosse, aber rirgendwie erbärmlich. Er roch wie eine Ziege, klang im Grunde genommen so und trotz seiner Stärker es ein jämmerliches Exemplar seiner Gattung.
Der alte Tiger packte seinen jungen Artgenossen am Hals und trug ihn zu einer nahegelegenen Wasserstelle. Er zeigte ihm sein Spiegelbild, aber der junge Tiger blieb davon unbeeindruckt und mähte ein weiteres Mal.
Tribut 2
Frustriert über das fehlende Verständnis packte der alte Tiger den Jungen erneut und zerrte ihn zurück zu seiner Beute. Er riss ein Stück des Fleisches aus dem Kadaver und steckte es dem jungen Tiger in den Hals.
Das Jungtier wehrte sich und versuchte das Fleisch seines Familienmitglieds wieder auszuspucken. Der alte Tiger aber bestand darauf und zwang ihn es zu schlucken.
Dann folgte ein zweites und ein drittes Stück und plötzlich veränderte sich etwas im jungen Tier.
Das warme und frische Blut weckte uralte, genetische Instinkte und löste etwas vollkommen Neues in ihm aus. Zum ersten Mal in seinem Leben streckte sich der junge Tiger, nahm Haltung an und ließ ein mächtiges Gebrüll erhalten. Das Gebrüll eines Königs, das Gebrüll eines Tigers.
Das eigentliche Erbe
Dann verschwanden die beiden gemeinsam im Dschungel und ließen die Herde hinter sich.
Heinrich Zimmer beschreibt das „Gebrüll des Erwachens“ als Metapher für die Entdeckung unseres Selbst.
Die Lightversion
In Coaching wird häufig eine ähnliche Geschichte erzählt. Es geht um einen Adler, der denkt er sei ein Huhn und er wächst in einem Hühnerstall auf.
Eines Tages merkt der Adler, dass er Flügel hat, nutzt sie und fliegt davon.
Persönlich gefiel mit die Geschichte nie, denn sie hat so ihre Schwächen:
- Wir haben jetzt einen Adler, der zwar rumfliegt, aber immer noch denkt, er sei ein Huhn. Die Geschichte birgt keinen Erkenntnisprozess in sich
- Die Geschichte ist sehr bequem., da der Adler keinen Tribut zahlen muss für sein Erwachen. Flügel entdecken, fliegen fertig. Bei allem Respekt hinkt die Analogie selbst mit dem Vorgang der Pubertät.
Tribut 3
Der Tribut in der Geschichte unserer Geschichte ist das grundlegend Wichtige. Der Tiger isst letztendlich ein Familienmitglied. Er opfert seine ursprüngliche Loyalität für eine Veränderung. Diese Veränderung war nicht ganz gewollt, aber dass sind Veränderungen häufig nicht.
Erst durch diese bittere Initiation entfaltet der Tiger sein Erbe.
Was sind ihre Opfer, die sie bringen müssten um zu erwachen?